Wege und Weisheit der Liebe

Die Verlegenheiten von Juden und Christen vor dem Hohen Lied, das sie in ihrer Heiligen Schrift lesen, spiegelt die Geschichte der Erotik und der Einstellung zum Sexuellen wider.

Typisierung der Liebe

Keineswegs eine blanke Naturtatsache, die man nur biologisch zu fassen bräuchte, hat „die Liebe" in verschiedenen Kulturen auch verschiedenen Stellenwert:

  • sehr hoch in der griechisch-römischen Antike, bis zur Vergötzung der Liebesekstase und der Fruchtbarkeit;
  • entgöttlicht, profan, einerseits sehr natürlich, aber auch mit Skepsis gesehen im Judentum;
  • eingeschränkt, unter Verdacht in manchen christlichen Zeiten.

Eine ganz grobe Typisierung, gewiss; nur die offenkundigen Trends, die herrschenden Ideologien sind flüchtig benannt. Aber wie haben die Frauen und Männer sich mit der gegenseitigen Anziehung (und ihren Folgen) auseinandergesetzt — 1 000 Jahre vor Christus, im christlichen Mittelalter, heute? Wie haben die Mädchen und die jungen Männer gegen die Einschränkungen durch die allgemeine Sittlichkeit protestiert, mit den Bräuchen, Freiräumen und Heimlichkeiten ihrer Gesellschaft?

Fragen wir nicht nach dem Dort und Damals, sondern wie wir heute leben! Die Spannungen von Jung und Alt sind da wie eh und je; kirchliche Lenkungsversuche — Gesellschaft oder gar Staat haben sich ausgeklinkt! — und dagegen der Protest der „Laien"; die Naturgewalt des Begehrens, mit (fast) jedem Menschen neu entstehend, und dagegen die sozialen Formen und Begrenzungen. Versuchen wir, die Herausforderung anzunehmen und das alte, immer neue Problem der Liebe anhand eines Stücks Bibel uns klarzumachen: das Hohe Lied, Gottes Wort von sehr menschlichen Dingen. Die Erfahrung der Gefühle von Frau und Mann sind in ihm zu spiegeln, ganz profan, wie wenn Gott im Profanen zu finden wäre. In dem Fasziniertsein und in der Verstrickung durch eine Lebensgeschichte kann die führende, formende Hand Gottes gespürt werden.

Wollen wir das Hohe Lied lesen, ist nicht Spezialwissen gefragt, sondern meine Einfühlung, mein Mitschwingen, meine Entscheidungen. Ich stehe nicht außerhalb, in der sicheren Distanz des Wissenschaftlers. Ich verstehe das Hohe Lied und die Menschen nur wirklich als Teilnehmender, als Berührter. Wie rede ich also, damit der Funke zwischen einem Stück Bibel und meiner Erfahrung überspringt und zündet? Ich wage es, das, was ich aus meinem Leben und Lernen kenne, mit dem uralten Wortlaut der Bibel zusammenzubringen. Wenn ich richtig lese, müsste mehr herauskommen und anderes, als bei Sigmund Freud zu lernen war.

Wie ein Feuer

Das ganze Leben — leicht fließend und widerständig, Lieben und Geliebtwerden, das Fortgerissen- werden im Gegenüber kann auch Angst machen, es ist nicht harmlos. Will ich mir den ganzen Aufruhr überhaupt antun? Aber irgendetwas in mir ist schon weiter als meine Angst; eh ich mich versehe, bin ich mitten drin, wir sind verliebt. Aus der Rückschau, wieder bei klarer Besinnung, begreife ich, was mit uns geschehen ist: Es fing an mit dem Sehen. Ich habe nicht mehr wegschauen können, du hast mir gefallen, ich habe dich schön gefunden. Was hat dein Geliebter einem anderen Geliebten voraus, du Schönste der Frauen? Was hat dein Geliebter einem anderen Geliebten voraus, dass du uns so beschwörst? Mein Geliebter ist weiß und rot, er ragt hervor aus Zehntausend! Sein Haupt ist feines Gold; (wie) Dattelrispen sind seine Locken, schwarz wie ein Rabe. Seine Augen sind wie Tauben am Wasser eines Beckens, die sich baden in Milch, die sitzen auf einem Meer. Seine Backen sind wie Beete mit Balsam, (wie) Schreine voll Würzwerk. Seine Lippen (gleichen) Lilien, sie träufeln flüssige Myrrhe. Seine Hände sind Walzen aus Gold mit Tarschisch-Steinen besetzt. Sein Leib ist eine Elfenbeinplatte, bedeckt mit Saphiren. Seine Beine (gleichen) Marmorsäulen, gegründet auf Sockel von Feingold. Wie der Libanon ist seine Gestalt, ohnegleichen wie Zedern. Sein Mund ist (voll) Süße; ganz und gar ist er entzückend! Das ist mein Geliebter, ja das ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems!/Hld 5,9-1 Wie schön bist du und wie reizvoll, o Liebe, o Wonne! Ja, dein Wuchs gleicht der Palme, und deine Brüste Trauben. Entschlossen will ich die Palme ersteigen, will ihre Rispen ergreifen. Deine Brüste sollen nun sein wie Trauben des Weinstocks, und dein Atem wie Apfel(duft), und dein Mund (sei mir) wie bester Wein. Er geht so glatt dem Liebsten ein, und sanft fließt er über die Lippen derer, die schlafen. Ich gehöre meinem Geliebten, und nach mir steht sein Verlangen.IHld 7,7-11

Deine Stimme am Telefon konnte ich nicht satt hören, ich schnupperte nach deinem Parfüm Deine Öle sind köstlich an Duft; wie ausgegossenes Öl ist dein Name; darum lieben dich die Mädchen.! Hld 1,3 Solang der König weilt bei seiner Tafelrunde, verströmt meine Narde ihren Duft./Hld 1,1), miteinander zu essen und zu trinken war eine Freude. Dann kam das Verlangen nacheinander, die Sehnsucht, das Begehren; es war ein Ziehen von dir zu mir, von mir zu dir. Es strahlte etwas aus von der Dynamik zwischen uns, die anderen wärmten sich gerne an dem Feuer.

Aber da war nicht nur das Helle, Leichte; Eifersucht war plötzlich da, die mich hart herausforderte. Die Liebe war auf einmal streng, unerbittlich geworden. Tue mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinem Arm! Ja, stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie die Unterwelt die Leidenschaft. Ihre Brände sind Feuerbrände, sind Flammen Jahwes./Hld 8,6. Ich musste lernen, dass ich eine Verpflichtung eingegangen war; du erwartetest, fordertest von mir; ich war ein Versprechen geworden und sollte es halten. Es gab Stunden des Zorns aufeinander, Kränkungen, Verletzungen hin und her, es musste gekämpft werden. Aber als ich es durchgebissen hatte, war das Miteinanderleben begriffen; ich hatte ein Stück mehr, besser leben gelernt.

Es konnte nicht ausbleiben, dass die „Wächter der Stadt", meine Umgebung und Lebenswelt, ihre Härte gegen mich zeigten. Die Wächter trafen mich an auf ihrer Runde durch die Stadt; sie schlugen mich, verwundeten mich. Meinen Überwurf rissen mir weg die Wächter der Mauern./Hld 5,7; meine Bindung an dich hat die Ordnung gestört. Das Verliebtsein wird Entscheidungen von mir fordern, es will in mein ganzes Leben eindringen — und es verändern.

In der Tat, die Liebe begnügt sich keineswegs mit den schönen und akzeptierten Gefühlen, es geht nicht glatt. Sie ergreift mein Leben wie Feuer: die Sinne, meine sexuelle Erregbarkeit, meine Leidenschaft, auch den Zorn; noch mehr: meine Stellung zu

den anderen, zur Gesellschaft und inneren Normen. Verkürze ich das Phänomen, sei es auf Innerlichkeit oder auf Sex, zerstöre ich es. Will ich die Liebe ganz, werde ich mit ihrer hellen auch ihre dunkle und wilde, ihre umwandelnde Kraft annehmen müssen.

Hingerissen-sein - Außer-sich-sein

Das Wilde, die Entfesselung der Leidenschaft — in ungezählten Liebesgeschichten fließt am Ende Blut: Mord aus Rache, Totschlag im Affekt, Eifersucht, in Wut umgeschlagenes Begehren.

Es fängt leicht an mit dem Entzücken aneinander, wie ein Fest, ein Rausch. Er führt mich ins Haus des Weines; sein Banner über mir ist die Liebe. Helft mir auf mit Traubenkuchen, erfrischt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank von Liebe! Seine Linke (faßt) unter mein Haupt, seine Rechte umfängt mich. Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter, bei den Gazellen oder den Hindinnen der Flur: Stört doch die Liebe nicht, und weckt sie nicht auf bis es ihr (selbst) gefällt!! Hid 2,4-7 u. ö.. Die beiden leben mehr im andern als für sich verschlossen. Wie wenn Türen aufgesprengt, der ganze Lebensraum geöffnet wäre; sie sind außer sich, kennen sich selber nicht mehr, fühlen sich wie verzaubert, verwirrt, sind krank vor Liebe. Helft mir auf mit Traubenkuchen, erfrischt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank von Liebe!/Hld 2,5) (Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter, wenn ihr meinen Geliebten trefft, was sollt ihr ihm melden? Dass ich krank bin von Liebe!/Hld 5,8. Eine Art Ekstase, das Leben strömt endlich frei; sie könnten es auch hergeben, weil es erfüllt ist. Mann und Frau erleben sich wohltuend passiv, bei allem Tätigsein, wie erlöst von sinnlosem Aktivsein und Tun-müssen. Sie fühlen mit einem Mal, dass sie auch ganz anders leben können.

Josef Pieper macht auf einen merkwürdigen Satz bei dem kühlen Kirchenlehrer Thomas von Aquin aufmerksam: die leidenschaftliche Liebe, das Hingerissen- sein (amor) sei göttlicher als das auswählende, bedachtsame Gernhaben (dilectio). Wie wenn das Loslassen und Sich-hinreißen-lassen weiter führen könnte (vielleicht gar zu Gott) als das Tätig- und Vernünftigsein, das wir natürlich keineswegs übersehen wollen. Im andern sein, die eigenen Grenzen überschreiten, Transzendieren: vielleicht der entscheidende Schritt im Leben eines Menschen, den viele der kleinen Lieder im Hohen Lied umspielen.

Auch Leiden!

„Hab ich Lieb, so hab ich Leid", lässt Carl Orff seine „Bernauerin" singen, denn es geht um eine Leidenschaft, eine Passion. Schon meine Bedürftigkeit, mein Angewiesensein auf dich gehört dazu, ich bin nicht unabhängig, freies Individuum, ich lerne bitten, gehe in die Schule der Demut.

Die unvermeidlichen Trennungen kommen dazu, die Abschiede, ein Vorgeschmack des schärferen Getrenntseins: Wir verstehen uns nicht, müssen nacheinander suchen unter Angst und Tränen. Den meine Seele liebt, du sage mir, wo du weidest, wo du (mit der Herde) lagerst zur Mittagszeit. Warum soll ich eine sein, die herumirrt bei den Herden deiner Genossen?lHld 1,7 f.) (Bei Nacht auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt; ihn suchte ich, doch ich fand ihn nicht. „So will ich denn aufstehn, die Stadt zu durchstreifen; will auf Straßen und Plätzen den suchen, den meine Seele liebt!" Ich suchte ihn, doch ich fand ihn nicht! Die Wächter trafen mich an auf ihrer Runde durch die Stadt. „Habt ihr, den meine Seele liebt, gesehen?" Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich hielt ihn fest und will ihn nicht lassen, bis ich ihn gebracht ins Haus meiner Mutter, in die Kammer von der, die mich getragen. Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter, bei den Gazellen oder den Hindinnen der Flur: Stört doch die Liebe nicht, und weckt sie nicht auf bis es ihr (selbst) gefällt! lHld 3,1-5. Ich schlief, doch mein Herz war wach — Horch, mein Geliebter pocht (und sagt): Tu mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Makellose! Denn voll von Tau ist mein Haupt, von Tropfen der Nacht meine Locken! Ich habe mein Kleid (schon) ausgezogen, was sollt' ich es wieder anlegen? Mir (bereits) die Füße gewaschen, was sollt' ich sie schmutzig machen? Mein Geliebter streckte die Hand durch die Öffnung; da bebte mir seinetwegen das Innerste. Ich erhob mich, meinem Geliebten zu öffnen; meine Hände tropften von Myrrhe, meine Finger von Myrrhe, die über die Griffe des Riegels rann. Ich öffnete meinem Geliebten; doch mein Geliebter war weg, war entschwunden. Ich geriet außer mir wegen seiner Flucht. Ich suchte ihn, doch ich fand ihn nicht; ich rief nach ihm, doch er gab mir nicht Antwort. Die Wächter trafen mich an auf ihrer Runde durch die Stadt; sie schlugen mich, verwundeten mich. Meinen Überwurf rissen mir weg die Wächter der Mauern. Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter, wenn ihr meinen Geliebten trefft, was sollt ihr ihm melden? Dass ich krank bin von Liebe! lHld5,2-8, gehen weg, sind nicht da, fühlen uns verlassen, verraten; manches schleicht sich ein, das man zu spät erkennt  Fangt uns die Füchse, die jungen Füchse. Die verwüsten die Weinberge, auch unsere Weinberge, die doch in Blüte stehn! lHld 2,15. Ich lerne, dass ich nicht über dich verfügen kann; du bist freier Mensch wie ich selber. Es bleibt viel Ungewissheit, ich kann nicht in dich hineinkriechen und deine Gedanken, deine Liebe zu mir besetzen; wir bleiben getrennt, ich muss nach dir suchen, du nach mir; Verschmelzung gibt es nicht, so nahe der Traum für kurze Augenblicke schien. Ich bin Person, Individuum, ebenso wie du, erwachsen, unabhängig voneinander. Anders können wir nicht mit einander leben, als dass wir uns abgrenzen voneinander, bei aller Sehnsucht — wonach eigentlich?

Als ich das verstanden hatte, war aus der heißen Verliebtheit des Anfangs längst etwas anderes geworden. Das Nacheinander-suchen, die dazu gehörenden Trennungen, innen und außen, führten dazu, ebenso wie die glücklichen Strecken, die wir miteinander gingen.

Wir waren andere geworden, die Liebe hatte sich gewandelt. Es hatte oft weh getan, gebrannt wie Feuer — und wir waren neu geworden, gegen die Zeit, in der wir älter werden.

Lob des Augenblicks

Die Liebe hat uns radikal in den Strom der Zeit hineingerissen. Allein, solange ich mein Bedürfen nicht spürte und nicht dein Warten auf mich, konnte ich mich täuschen und das Ewige, das Immer-Gleiche in mir genießen; hatte man mir nicht gesagt, dass ich so in die Nähe Gottes käme? Aber jetzt: das Aussteigen aus der Uhren-Zeit und Eintauchen in die Gegenwart mit dir, die Freude an dem mit allen Sinnen erfüllten Augenblick! Die Sehnsucht ruhte, aber sie wusste, dass das sich drehende Rad des Lebens uns in die Zeit zurückwerfen würde — Arbeit, Verpflichtungen, Alltag. Der Wechsel macht die Zeit kostbar; verstanden wir nicht unser Leben besser, als wir die Augenblicke, auf die es uns ankam. Seine Linke (faßt) unter mein Haupt, seine Rechte umfängt mich.! Hid 2,6. Seine Linke (fasst) unter mein Haupt, und seine Rechte umfängt mich./Hld 8,3. Ich gehöre meinem Geliebten, und nach mir steht sein Verlangen. fHld 7,11), dem gleichgültigen Einerlei abzugewinnen lernten? Und wie die Zeit miteinander vor der Arbeits-, Zerstreuungs- und Erholungszeit geschützt werden musste! Dass wir sterben müssen, haben wir gewusst — im Kopf, theoretisch; jetzt ist mit der Angst um dein Leben, mit deiner Sorge um mich das mögliche Ende konkreter geworden, auch bedrohender. „Bis der Tag heranweht und die Schatten fliehen" Ehe der Tagwind weht und die Schatten weichen, kehre zurück! Gleiche du, mein Geliebter, einer Gazelle oder dem Junghirsch auf den Bergen des Bundes!/Hld 2,1), begrenzt die wertvolle Zeit. Die Ruhe des Beieinanderseins Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein; er weidet (nun) in den Lilien./Hld 2,16 fällt aus dem Uhrenschlag heraus — und doch nicht. Die Einübung ins Menschsein, ins Vergänglich-sein ist elementar, ganz anders als die Meditation in allen Religionen. Ist sie etwa weniger wert? Das konkrete Leben, die kostbare vergehende Zeit, das Hier und Jetzt, du und ich: das ist Erde, Diesseits — und es ist ein Tor zum „göttlichen Bereich".

Suleika, die Liebende in Goethes „West-östlichem Divan", sagt es schlagend zu einem Frommen, der auch recht hat: „Der Spiegel sagt mir, ich bin schön! Ihr sagt: zu altern sei auch mein Geschick. Vor Gott muß alles ewig stehn, in mir liebt ihn, für diesen Augenblick."

Wie von der Liebe reden?

Die klaren Begriffe der Philosophen und Theologen sind wie für die Ewigkeit, aber sie fassen schlecht das Fließende, Bewegte zwischen Mann und Frau, die Entscheidungen, die langsam reifen den Veränderungen. „Er weidet in den Blumen"

Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir, der weidet bei den Lilien .IHld 6,), „Lege mich wie ein Siegel an dein Herz" Tue mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm! Ja, stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie die Unterwelt die Leidenschaft. Ihre Brände sind Feuerbrände, sind Flammen Jahwes.1H1d 8,6 sind Vergleiche, Metaphern, Symbole, schwebend, mit dem Duft der Freiheit, mit der Nähe von Mensch zu Mensch. Die Neugier wacht auf, die Phantasie: Was tut sich im Weinberg, was unter dem Apfelbaum, was verbirgt sich im Garten, was macht der Frühling „Vorbei ist der Winter, vorüber, verrauscht der Regen." Denn sieh, der Winter ist vorüber; der Regen ist vorbei, ist fort. IHld 2,11)? Und was bedeutet „ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell" Ein verschlossener Garten (bist du), meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell.IHld 4,1)? Dass die Liebenden sich als Hirten maskieren, sich als König Salomo und seine Königinnen verkleiden, öffnet den Raum ins Unendliche. Die Symbole der Erotik führen die Sprache über alle Grenzen; die mystischen Umdeutungen haben leichtes Spiel.

Kinsey-Reports, die „sexuelle Reaktion" nach Masters und Johnson, der letzte Schrei über die Hormone in den Illustrierten sind die heute modischen wissenschaftsförmigen Variationen des alten Gesprächs zwischen den Liebenden — oder sind sie doch seine Perversion? Denn das lebendige Hin und Her des Redens und Hörens, auch des Stillseins füreinander, das sehr persönliche Spiel miteinander ist darin verschwiegen, wie wenn es keine Rolle spielte.

Die Sprache der Liebenden ist anders. Sie öffnet mich für dich, dich für mich. Sie kann schweigen für die, die es nichts angeht. Sie ist unverständlich für die Nicht-Berührten. Sie führt in die Weisheit des Lebens ein.

Eros ist für uns kein Gott, denn er hat selber die Erlösung nötig. Aber er vermag zum Wachsen anzutreiben, er bringt auf einen Weg: auf den (nicht zu Ende gehenden) Weg zu mir selbst wie zu dir; auf den Weg in mein „Unbewusstes" ebenso wie in die vollere Kommunikation, das umfassendere Reden und Schweigen miteinander. Und nicht zuletzt auf den Weg in das reifere Glauben.

Lorenz Wachinger